Sie erkennt die „Super-Gesichtserkenner“

Meike Ramon

Die Neurowissenschaftlerin Meike Ramon beschäftigt sich mit Menschen, die eine ausserordentliche Gabe haben, Gesichter zu verarbeiten. Daran ist auch die Polizei interessiert.

Meike Ramon träumte als Kind nie davon, einmal Neurowissenschaftlerin zu werden. Vielmehr interessierte sie sich für die Public Relations, weshalb sie bereits nach dem Abitur ein Praktikum in einer Agentur absolvierte. Als die dortigen Vorgesetzten ihr rieten, nicht Kommunikation oder Journalismus zu studieren – das lerne man später im Berufsalltag sowieso –, sondern ein Fach, dass ihr wirklich Spass bereite, entschied sie sich für ein Psychologiestudium an der Universität Bochum (Deutschland). Ein Entscheid, der ihre weitere Laufbahn für immer prägen würde. Ramon begann neben dem Studium als Assistentin zu arbeiten, wodurch sie bereits früh Forschungserfahrung sammeln konnte. Eine Seminararbeit in der Entwicklungspsychologie zum Thema Gesichtserkennung bei Säuglingen legte die Basis ihrer späteren Diplomarbeit. «Wir lernten damals im Studium, dass Neugeborene ihre Umgebung nur unscharf wahrnehmen, aber gleichzeitig das Gesicht ihrer Mutter innerhalb von 24 Stunden erkennen können», erzählt die Forscherin. «Das erschien mir unvereinbar, weshalb ich dem Thema genauer nachgehen wollte.» Ohne es zu wissen, hatte Ramon das Gebiet gefunden, das ihren Forschungsalltag bis heute prägt: die Gesichtserkennung.

Entscheidende Begegnung in New York

Ramons Diplomarbeit wurde «hyperambitioniert». Die Studentin entwickelte dafür gleich mehrere Verhaltenstests, wollte mit Elektroenzephalografie (EEG) und Kernspintomographie arbeiten, um der angeborenen «Gesichtsblindheit» (Prosopagnosie) nachzugehen. Schliesslich folgte sie dem Rat ihrer Professorin, sich mit einer Kommilitonin zusammenzuschliessen, um den Projektumfang etwas zu reduzieren. «Weil ich so viel Zeit und Energie ins Thema gesteckt hatte, wollte ich die Ergebnisse danach auch anderen Forschenden präsentieren.» Ramon bewarb sich deshalb noch vor Abschluss des Hauptstudiums für eine Konferenz in New York und reiste auf eigene Kosten hin. «Da stand ich plötzlich vor einem riesigen Hotel, mit einem Poster unter dem Arm, ahnungslos, was mich auf einer wissenschaftlichen Konferenz erwarten würde.» Nach der Präsentation führte sie ein angeregtes Gespräch mit einem Forscher, der ebenfalls Ergebnisse zur Gesichtsblindheit präsentierte. Nach der Verabschiedung realisierte Ramon, dass sie soeben Bruno Rossion kennengelernt hatte, ein bekannter Experte auf dem Gebiet der Gesichtserkennung, den sie in ihrer Diplomarbeit ausführlich zitiert hatte.

Sie blieben in Kontakt und Ramon absolvierte ein freiwilliges Forschungspraktikum in Rossions Labor in Belgien. Daraufhin bot ihr der Professor eine Promotionsstelle an. Während ihrer Doktorarbeit forschte Ramon zur Frage, weshalb wir Informationen zu Gesichtern von uns bekannten Menschen viel schneller und besser verarbeiten – also miteinander vergleichen und uns einprägen können – als solche von unbekannten Menschen. Welche neurologischen Prozesse sind dafür verantwortlich? Jahre später begann Ramon sich erstmals mit dem Phänomen der «Super-Recognizer» zu beschäftigen. Das sind Menschen mit einer Gabe, Informationen zu Gesichtern überdurchschnittlich gut zu verarbeiten, egal ob ihnen diese bekannt oder unbekannt sind.

Sie macht ein Beispiel aus ihrer aktuellen Forschung: Die Forscherin zeigt einer Super-Recognizerin das Bild einer Person, die diese noch nie zuvor gesehen hat. Danach zeigt sie der Probandin ein kurzes Video einer grossen Menschenmenge, zum Beispiel die Zuschauertribüne in einem Fussballstadion. «Für die meisten Menschen ist es unmöglich diese eine unbekannte Person in der Menschenmenge ausfindig zu machen.» Die Super-Recognizerin hingegen erkennt diese schnell. Ramon hat sich zum Ziel gesetzt, die spezifischen neurologischen Prozesse, die dieser Gabe zugrunde liegen, zu identifizieren. Dazu zeigt sie in einer ihrer Studien Probandinnen und Probanden, die eine Kappe mit 64 integrierten Elektroden tragen, auf einem Bildschirm sehr schnell aufeinander folgende visuelle Reize, während ein mobiles EEG-System die elektrischen Hirnsignale aufzeichnet.

Wertvoll für Täteridentifizierung

Vor einigen Jahren wurde Ramon von der kantonalen Kriminalpolizei in Fribourg angefragt, ob sie für Ermittlungen zu einem Überfall auf eine Bank und ein Juweliergeschäft Super-Recognizer vermitteln könnte. Sie kontaktierte «ihre» Super-Recognizer und nutzte die Chance, um ihre Forschungsdaten mit Erkenntnissen aus der praktischen Polizeiarbeit zu validieren. Dies führte zur ersten Studie, in der die Fähigkeiten von Super-Recognizern mit Daten aus einer realen polizeilichen Untersuchung empirisch getestet wurden. Ramon stellt die Ergebnisse dieses Jahr bei Europol in den Haag (Niederlande) internationalen Polizeibehörden vor.

Die Forscherin erklärt, wie Super-Recognizer die Polizei konkret unterstützen können: Nach dem Terroranschlag auf den Weihnachtsmarkt bei der Berliner Gedächtniskirche im Dezember 2016, bei dem 13 Menschen ermordet wurden, schauten sich dutzende Beamtinnen und Beamte stundenlang Videos von Überwachungskameras an, um den Täter zu identifizieren. «Super-Recognizer können solche Aufgaben viel effizienter bewältigen», sagt Ramon. Seit 2017 berät sie die Polizei Berlin in Sachen Super-Recognizer. Mit einem gemeinsam entwickelten Testverfahren konnten sie aus rund 18`000 Berliner Beamtinnen und Beamten diejenigen mit einer speziellen Gabe für die Gesichtserkennung ermitteln.

Die Frage, ob Gesichtserkennungs-Software und spezialisierte Algorithmen diese Arbeit nicht längst effizienter erledigen können, antizipiert die Forscherin gleich selbst – sie hat sie schon dutzende Male beantwortet. «Algorithmen sind nur dann gut, wenn sie zuvor mit sehr vielen Bildern trainiert werden. Super-Recognizer können dies hingegen intuitiv, basierend auf nur einem Bild.» Sie plädiert deshalb dafür, die Gabe von Super-Recognizern mit den zuverlässigsten maschinellen Lösungen gezielt für die Polizeiarbeit zu kombinieren.

Mit dem Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds konnte Ramon 2019 ihre eigene Forschungsgruppe aufbauen. Ihr «Applied Face Cognition Lab» ist seit März 2022 mit der Universität Lausanne affiliiert. Wie es nach 2024 weitergeht, wenn die Förderung ausläuft, weiss sie derzeit noch nicht. Der Wettbewerb für eine eigene Professur – der nächste logische Karriereschritt – sei unter Forschenden enorm kompetitiv. Sie kann sich deshalb auch vorstellen für Bundesbehörden, in der Beratung oder Industrie zu arbeiten. Im September hat sie den Grossen Rat des Kantons Bern über das Potenzial und die Risiken der menschlichen und maschinellen Gesichtserkennung informiert. «Meine Forschung ist aktuell sehr gefragt», sagt Ramon. Das Interesse von Polizei und Justiz an Super-Recognizern sei in den letzten Jahren stark gewachsen. «Ich bin deshalb gespannt, welche Türen sich mir in Zukunft noch öffnen werden.»