Der Abschied vom Wachstum fällt schwer

Ein geordneter Rückzug könnte die Probleme entlegener Bergregionen lösen. Der politische und gesellschaftliche Widerstand – allein gegen das Wort Schrumpfung – ist jedoch gross. Von Atlant Bieri

(Aus "Horizonte" Nr. 109 Juni 2016)​​​

​Die Zeiten für die Schweizer Bergregionen sind hart: Die Wirtschaft stagniert, die Bevölkerung wandert ab. Auf der Suche nach zukunftstauglichen Strategien hat eine Variante mehrmals Schiffbruch erlitten: die Schrumpfung, also der Rückbau von Dörfern und Regionen. Anfang 2016 tagten in Bern Wissenschaftler der Interakademischen Alpenkommission, die Prozesse entwickeln, mit denen der Verkleinerungsprozess geordnet und fair für die Betroffenen stattfinden kann. Sie wollen den Lösungsansatz wieder auf die Agenda bringen – ein schwieriges Unterfangen.

Denn schrumpfen statt wachsen ist in der Bevölkerung und in der Politik tabu. Das liegt wohl daran, dass die Alpen früher eine Geldmaschine waren, vermutet Historiker Jon Mathieu vom Historischen Seminar der Universität Luzern. Er befasst sich intensiv mit der Geschichte des Alpenraums. "Die Alpen liegen seit Jahrhunderten im Zentrum zwischen sehr entwickelten europäischen Regionen wie Venedig, Mailand, München oder Lyon." Das hat den Tourismus bis in die Gegenwart enorm gefördert. "Heute haben die Alpen ihr Monopol verloren", sagt Mathieu. Reisen ist billig geworden. "Damit stehen die Alpen im Wettbewerb mit vielen Landschaften in der Welt." Bedroht ist die Einnahmequelle Tourismus zudem durch die Klimaerwärmung, zumindest im Winter.

Auch die Landwirtschaft ist unter Druck: In der Schweiz geben drei Betriebe pro Tag auf, einer davon befindet sich in den Alpen. Und ein weiterer Wirtschaftszweig, auf den sich Dörfer wie beispielsweise Andermatt bis in die 1980er Jahre verlassen konnten, bricht weg: Die Armee spart sich den Waffenplatz, der früher der halben Einwohnerschaft ein Auskommen beschert hat.

Gesundschrumpfen ist teuer

Am schlimmsten trifft die Dörfer die Abwanderung. "Junge Menschen wollen Freizeit, Kultur, Kino und Unterhaltung. Hier schneidet das Land viel schlechter ab als die Stadt", sagt Dieter Rink, Soziologe am Helmholtz-Zentrum der Universität Leipzig. Der Prozess in den Bergregionen sei im Wesentlichen derselbe, wie er in der ehemaligen DDR stattgefunden habe. Dort sind nach dem Mauerfall viele nach Westdeutschland gezogen.

Es gab regelrechte Geisterstädte. Schliesslich hat der Staat eingegriffen und Gelder für den Abriss leer stehender Häuser in der Peripherie und die Sanierung von Altbauten in der Innenstadt zur Verfügung gestellt. Seit 2002 hat die Bundesregierung rund drei Milliarden Euro für die Schrumpfung ostdeutscher Städte ausgegeben.

Die Schrumpfung staatlich zu finanzieren und zu begleiten wäre auch in den Schweizer Bergregionen sinnvoll. Doch es gibt zurzeit keinen Prozess, der dies erlauben würde: "Die Option, als Region einfach mal Pause zu machen, gibt es noch gar nicht", sagt Stefan Forster, Leiter des Forschungsbereichs Landschaft und Tourismus an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften: "Die Regionalpolitik des Bundes ist auf Wachstum ausgerichtet und nicht auf Schrumpfung. Diese steht nicht zur Diskussion."

Wortkreation dringend gesucht

Einen Versuch gewagt hat das Amt für Wirtschaft und Tourismus des Kantons Graubünden. Es hat 2009 den Bericht "Strategien zum Umgang mit potenzialarmen Räumen" herausgebracht. "Eigentlich wollte man nur schauen, wo das Problem der Schrumpfung am dringendsten behandelt werden muss", sagt Forster. Das Resultat der Untersuchung war eine Karte, in der eben diese "potenzialarmen Räume" rot eingezeichnet waren. Darunter befanden sich die Region Hinterrhein, das Val Müstair oder das Schanfigg zwischen Chur und Arosa.

"Es war ein Debakel", sagt Forster. "In den Medien gab es einen Aufschrei. Gemeindepräsidenten waren empört." Als Konsequenz wurde das Projekt, kaum aus der Taufe gehoben, gleich wieder begraben.

Grund dafür ist unter anderem, dass der Begriff Schrumpfung in der Schweiz – im Gegensatz zu Deutschland – nicht geduldet wird. Um allgemein akzeptierte Bezeichnung für die Schrumpfung ringen auch andere Orte. In Deutschland hat man die "Lean City", also "schlanke Stadt", erfunden. "Das hat sich jedoch nicht durchgesetzt", sagt Rink. In der EU gibt es die etwas eigentümliche Wortkombination "Cities Regrowing Smaller".

Erfolgreich mit der Begriffsfindung waren bis heute allein die USA, wo ehemals blühende Städte wie Detroit zerfallen. Für sie haben die Bürgermeister das hübsche Label "Legacy City", "Vermächtnis-Stadt", geprägt. Der Begriff greift das Gute eines Ortes heraus und verschweigt gleichzeitig das Negative.

Von einer gelungenen Wortkreation wie dieser ist die Schweiz noch weit entfernt. Das ist nicht verwunderlich. Bund, Kantone und die Gemeinden versuchen der Schrumpfung mit allen Mitteln entgegenzuwirken. "Es gibt einen permanenten Druck zu Innovation. Man hält Meetings, macht Brainstorming, schreibt Kärtchen", sagt Forster. "Auf diese Weise werden viele Gelder für neue Entwicklungsprojekte eingesetzt, die am Ende dann doch nicht funktionieren."

Wachstum um jeden Preis

Ein gutes Beispiel dafür ist Andermatt, wo der ägyptische Investor Samih Sawiris seit sechs Jahren auf dem ehemaligen Militärgelände ein Luxusressort zu bauen versucht. Geplant sind mehrere Hotels, Dutzende von Apartmenthäusern und mehrere Hundert Ferienwohnungen sowie ein Golfplatz. Doch es ist erst ein Hotel von sechs geplanten gebaut, und die Gästezahlen bleiben auf tiefem Niveau. Forster bezweifelt, dass alles so umgesetzt wird, wie es geplant wurde.

Das neuste Grossprojekt in den Alpen ist die "Heidi-Erlebniswelt" auf dem Flumserberg – eine weitere Region, die mit sinkenden Besucherzahlen kämpft. Es soll ein Heididorf entstehen mit einer Sennerei, Ferienhäusern, einem Restaurant und einem Spielplatz. Geplant sind zudem zwei neue Hotels mit rund 180 Zimmern und einer angrenzenden Parkgarage mit rund 400 Parkplätzen. Die Investitionskosten für das Vorhaben, mit dem der Kanton St. Gallen mehr Touristen in das Randgebiet locken will, belaufen sich auf 100 Millionen Franken.

An der Urne werden solche Projekte in der Regel genehmigt, auch wenn damit landwirtschaftliche Fläche für einen Golfplatz oder ein Hotel geopfert werden muss. "Diese Regionen haben ein sehr hohes Interesse dran, dass jemand kommt und den Schrumpfungsprozess aufhält. Die Bevölkerung ist bereit, alle möglichen Zugeständnisse zu machen", sagt Rink.

Klein hat Vorzüge

Oft wäre es besser, man würde die Gelder für den geordneten wirtschaftlichen Rückbau einsetzen. Denn so negativ die Schrumpfung besetzt ist – sie kann auch Vorteile haben. Wenn in einem Dorf wegen der Abwanderung die Schülerzahl sinkt, profitieren die verbleibenden Schüler mehr von der Lehrperson. Dadurch steigt die Unterrichtsqualität. "Der Kanton muss so natürlich mehr Schulen unterhalten, und das kostet Geld", sagt Rink. "Aber andere Länder bringen das auch fertig. In Finnland gibt es viele dünnbesiedelte Gebiete, wo der Staat kleine Schulen betreibt."

Entlegene Dörfer haben auch ihren Reiz als entschleunigte Alternativen zum hektischen und überfüllten Wohn- und Arbeitsort in der Stadt. "Es gibt Leute, die extra in diese Randregionen zügeln. Das sind junge, hochqualifizierte Gruppen. Die arbeiten dann von ihrem Laptop aus", sagt Colette Peter, Soziologin und Leiterin des Instituts für Soziokulturelle Entwicklung an der Hochschule Luzern.

Trotz dieser Vorzüge gibt es bis heute kein Dorf, das bewusst den Weg der Schrumpfung begangen hat. Nur ansatzweise gibt es schüchterne Vorstösse wie beispielsweise im Safiental im Kanton Graubünden. Seine Landschaft ist durch Hunderte kleine Ställe geprägt, in denen die Bauern früher das Heu aufbewahrt haben. "Die Bevölkerung weiss noch nicht, was sie mit diesen historischen Gebäuden anfangen soll", sagt Forster. "Aber vielleicht weiss es die nächste Generation." Darum wird nun Geld für ihre Sanierung gesammelt. Auf diese Weise können die Ställe Pause machen, bis eine neue Nutzung für sie gefunden ist.

In diesem Beispiel ist auch enthalten, was Jon Mathieu als zentral für die Zukunft in den Alpen betrachtet. Man dürfe die Bevölkerung nicht zu einer Lösung zwingen, sondern müsse sie einbeziehen: "Das ist das Allerwichtigste."

Atlant Bieri ist freier Wissenschaftsjournalist.