Mehr Wissenschaft für Schulbücher

Mit den naturwissenschaftlichen Lehrmitteln für die Volksschule steht es in der Schweiz nicht zum Besten. Forscher würden sich gern mehr einbringen – doch die Hürden sind hoch. Von Mathias Plüss

(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)​​​

Es ist paradox: Da wird seit Jahren wie ein Mantra wiederholt, Bildung sei der einzige Rohstoff der Schweiz. Da werden Jahr für Jahr viele Milliarden in Schulen und Universitäten investiert. Und am Ende hapert es bei einem zentralen Bestandteil eines jeden Bildungsprozesses: bei den Schulbüchern.

Die Situation ist von Fach zu Fach unterschiedlich. Einig sind sich viele Experten aber darin, dass bei Naturwissenschafts-Lehrbüchern auf der Stufe Volksschule der Wurm drin ist. Manche Lehrmittel seien "fachlich und didaktisch völlig veraltet", sagt Markus Wilhelm, Biologe und Dozent für Naturwissenschaftsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern. Auch Lucien Criblez, Pädagogikprofessor an der Universität Zürich und Mitglied des Zürcher Bildungsrates, spricht von "sehr grossem Handlungsbedarf". Diesen hätten die Verlage erkannt. Doch bis sich die Situation ändert, kann es noch dauern.

Die hohe Kunst des Vereinfachens

Sinnbildlich für die Probleme steht ein Berner Naturwissenschafts-Lehrmittel, das vor einigen Jahren wegen gravierender Fehler überarbeitet werden musste. Der zugrunde liegende Lehrplan, der die Evolution als blosse "Hypothese" bezeichnet und auf die gleiche Stufe wie Religionen stellt, ist allerdings noch bis 2018 gültig. Die schwierige Situation ist die Folge des amateurhaften Umgangs mit dem Thema im zwanzigsten Jahrhundert. "In Fächern wie Deutsch oder Mathematik haben sich immer wieder ausgewiesene Fachwissenschaftler um die Entwicklung von Lehrmitteln bemüht", sagt Lucien Criblez. Dass dies in den Naturwissenschaften nicht geschah, habe mit dem schwierigen Stoff zu tun: "Je komplexer die Materie, desto grösser die didaktischen Herausforderungen für die Vermittlung." Und die besten Fachleute sind bekanntlich nicht zwingend die begnadetsten Didaktiker.

In der Schweiz kommt ein weiteres Hindernis hinzu: die Kleinräumigkeit. "Jeder Kanton hat seinen eigenen Lehrplan", sagt Markus Wilhelm. "Darum haben viele Kantone eigene, passende Lehrmittel entwickelt." Wegen knapper Finanzen betraute man damit Personen, die bereit waren, fast gratis zu arbeiten. In der Regel waren dies engagierte Lehrerinnen und Lehrer aus der Region, die ihre Aufgabe mit viel Herzblut – aber zuweilen eben auch mit wenig Fachwissen – erfüllten.

Doch nun soll alles anders werden. Zum einen stehen heute mit den Dozierenden der Pädagogischen Hochschulen (PH) potenzielle Lehrbuch-Autorinnen und -Autoren zur Verfügung, die sowohl fachlich wie auch didaktisch ausgebildet sind. Zum anderen sind im Hinblick auf die Umsetzung des Lehrplans 21 neue Lehrmittel am Entstehen, die nicht mehr auf kantonale Besonderheiten Rücksicht nehmen müssen. Die Gelegenheit für einen Qualitätssprung ist also günstig. Auch die Akademie der Naturwissenschaft Schweiz (SCNAT) ist sich der Problematik bewusst. "Wir verlangen nicht, dass die Lehrbücher von Wissenschaftlern geschrieben werden – das können die Didaktiker von den PHs besser", sagt Helmut Weissert, emeritierter Geologieprofessor der ETH Zürich und Präsident der Kommission für Nachwuchsförderung der SCNAT. "Aber wir möchten mitreden bei Fragen wie: Welches Wissen gehört in ein Schulbuch? Wo entstanden in den letzten zehn oder zwanzig Jahren neue wissenschaftliche Schwerpunkte?" Die Türen für den Dialog stünden auf seiten der Schulbuchmacher noch zu wenig offen, findet Weissert. Immerhin hat Ende August eine erste Kontaktaufnahme stattgefunden, als sich Verleger, Didaktiker und Wissenschaftler in Bern zu einem Workshop trafen.

Wirkung wird kaum gemessen

Weissert nennt ein konkretes Negativbeispiel aus seinem Fachbereich: "In den Lehrplänen und Lehrbüchern werden unbelebte und belebte Natur noch immer strikt getrennt. Dabei wissen wir seit geraumer Zeit, dass biologische und geologische Prozesse eng miteinander verknüpft sind." Damit solch zentrales Wissen einfliessen könnte, wäre es wichtig, dass sich Autoren jeweils zu einer Gesprächsrunde mit Expertinnen und Experten träfen, bevor sie mit der eigentlichen Arbeit am Schulbuch beginnen.

Markus Wilhelm von der PH Luzern unterstützt diese Forderung. Er hat selber sehr gute Erfahrungen gemacht, indem er sich intensiv vom Evolutionsbiologen Heinz Richner von der Universität Bern beraten liess, als er selber an einem Lehrbuch über die Evolution schrieb. "Im ersten Moment habe ich gedacht, das brauche ich gar nicht, ich bin doch selber Experte", sagt Wilhelm. "Aber er hat mir unglaublich gute Tipps gegeben und mich an mindestens einer Stelle davor bewahrt, mich in die Nesseln zu setzen." Was aber gefehlt habe nach dem Schreiben: eine Untersuchung darüber, ob das Lehrmittel auch die beabsichtigte Wirkung erzielt. Gründliche Evaluationen finden bei deutschsprachigen Schulbüchern praktisch nie statt.

Schwierige Arbeit mit Professoren

Bruno Bachmann vom Schulverlag Plus in Bern seufzt ein wenig, wenn er hört, welche Forderungen von akademischer Seite auf ihn zukommen. "Ich kann verstehen, dass die Naturwissenschaftler gern enger dabei wären bei der Entwicklung von Lehrmitteln", sagt er. "Die sachliche Richtigkeit und Aktualität sind selbstverständlich auch uns ein Anliegen." Grundsätzlich finde er auch die konkreten Vorschläge richtig: Diskussion mit Experten zu Beginn, Evaluierung nach getaner Arbeit.

Doch in der Praxis gebe es zahlreiche Probleme: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Zusammenarbeit mit Universitätsprofessoren schwierig ist", sagt er. "Meist sind sie so eingespannt, dass sie den nötigen Freiraum gar nicht haben." Überdies stehe die Schulbuchentwicklung unter permanenter Zeitnot, und die Budgets seien eng, sodass ein zusätzlicher Aufwand oft illusorisch sei.

Unter Bachmanns Leitung konzipiert der Schulverlag Plus derzeit in Zusammenarbeit mit dem Lehrmittelverlag Zürich eine neue Schulbuchserie namens "NaTech 1-6" für die Primarstufe. Das Lehrmittel ist kompetenzorientiert und soll 2017 erscheinen, rechtzeitig vor der Einführung des Lehrplans 21. "Der neue Lehrplan wurde 2015 definitiv beschlossen", sagt Bachmann. "Eigentlich bräuchte man für ein neues Lehrmittel fünf bis sechs Jahre Zeit. Aber wenn wir erst 2021 herauskommen, heisst es wieder, es könne doch nicht sein, dass man einen neuen Lehrplan habe, aber keine passenden Lehrmittel dazu." So entsteht denn "NaTech" halt auf traditionelle Weise: Keine Expertenrunde am Anfang, keine richtige Evaluierung am Schluss. Es fehle schlicht die Zeit dafür, sagt Verleger Bachmann.

Immerhin arbeiteten die Autorinnen und Autoren, meist Didaktiker von den PHs, punktuell mit Universitätsexperten zusammen – nämlich dann, wenn sie konkrete Fachfragen haben. Dieses Vorgehen soll weiter ausgebaut werden: Die Akademien möchten einen Expertenpool generieren, auf den Verlage und Autoren zugreifen können, wenn sie Fragen haben, eine Gegenleserin brauchen oder einen wissenschaftlichen Partner für vertiefte Zusammenarbeit suchen. Die Vorarbeiten dafür sind im Gange.

Mathias Plüss ist freier Wissenschaftsjournalist und schreibt regelmässig für Das Magazin.