"Von der Inszenierung künstlicher Wettbewerbe sollte man sich lösen"

Publish or perish – dieses Anreizsystem produziere zu viel Nonsens, sagt der Volkswirtschaftler Mathias Binswanger. Interview von Roland Fischer

(Aus "Horizonte" Nr. 106, September 2015)
Bild: © Wikimedia Commons

Herr Binswanger, Sie schreiben, die Wissenschaft betreibe "nonsense production". Zu einem wie grossen Teil?

Ich fürchte, sie produziert zum Teil tatsächlich mehr Nonsense als Sense. Das hat mit den perversen Anreizen zu tun, die sogenannte "Exzellenz" schaffen sollen.

Was ist verkehrt am Wettbewerb?

Nichts, solange der Wettbewerb mit einem funktionierenden Markt verbunden ist. Dort gibt es einen Anreiz, das zu produzieren, was die Konsumenten wünschen. In der Wissenschaft allerdings ist eine Nachfrage gar nicht direkt vorhanden – zumindest nicht in der Grundlagenforschung.

"Es ist eine Illusion, Wissenschaft mit Messzahlen steuern zu können."

Also werden künstlich Indikatoren definiert. Dahinter steht die Idee, dass es eine Möglichkeit geben muss, gute Wissenschaft quantitativ zu messen wie etwa anhand der Zahl der Publikationen.

Irgendwie messen muss man doch, um zu wissen, wen man wie fördern soll.

Ich habe da meine Zweifel. So wie die Dinge derzeit stehen, muss die grundsätzliche Frage erlaubt sein: Warum überhaupt messen? Es wird immer behauptet, die Öffentlichkeit verlange das. Aber will die Öffentlichkeit immer mehr Publikationen in wissenschaftlichen Zeitschriften, die hauptsächlich geschrieben wurden, um bei einem Ranking gut abzuschneiden? Es ist eine Illusion, dass man gute Wissenschaft von oben mit Messzahlen steuern kann. Ich bin überzeugt, dass das heutige Anreizsystem einen echten wissenschaftlichen Fortschritt behindert.

Inwiefern?

Das Anreizsystem hat eine negative Wirkung auf die Motivation der Forscher – es gibt kaum einen Anreiz mehr, lang an einer Idee zu arbeiten, den grossen Wurf zu verfolgen. Eigentlich ist es ein natürlicher Trieb eines guten Forschers, Wesentliches und Neues herauszufinden und nach originellen Ansätzen zu suchen. Dazu braucht es vor allem gute Bedingungen.

Das Problem ist erkannt, die Anreize werden angepasst, Qualität und Quantität sollen besser austariert werden.

Wenn man in diese Richtung weitergeht, dann landet man bei einer Black Box, einem System, das niemand mehr durchschaut, schon gar nicht die Forschenden. Ich finde, man muss sich vollkommen von der Inszenierung künstlicher Wettbewerbe in der Wissenschaft lösen.

Ist die Situation in allen Forschungsfeldern gleich dramatisch?

Es gibt tatsächlich Unterschiede je nach Disziplin. Aber das Prinzip ist überall dasselbe. Grosse Teile der Sozial-, inklusive Wirtschaftswissenschaften arbeiten zum Beispiel inzwischen derart weit von der Realität entfernt, dass ein grosser Teil der Forschung nur noch als l’art pour l’art bezeichnet werden kann. Das gilt auch für angeblich empirische Forschung und Experimente. Das Anreizsystem funktioniert bestens, um die Zahl der Publikationen zu steigern, aber interessante oder nutzbringende Resultate sind selten dabei.

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er ist Gastredner an der Konferenz ScienceComm am 25. September.