"Risiken müssen belohnt werden"

Die Interdisziplinarität hat Sprengpotenzial, erklärt der Experte Frédéric Darbellay. Interview von Daniel Saraga

(Aus "Horizonte" Nr. 107 Dezember 2015)

​Sie haben 65 aktive Forschende in zehn Zentren der interdisziplinären Forschung
in der Schweiz befragt. Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Antworten?

Zuerst die erfreuliche Tatsache: Die Schweizer Forschenden betätigen sich in Interdisziplinarität. Trotzdem schätzt die Mehrheit unter ihnen, dass die Interdisziplinarität zu wenig als vollwertige Forschungsdisziplin anerkannt ist.

Wie meinen Sie das konkret?

Von Interdisziplinarität (ID) spricht man oft, wenn ein umfassendes und nicht auf
eine einzige Fachrichtung reduzierbares Problem studiert wird, zum Beispiel Fragen
der Bildung, der Umwelt oder der Gesundheit. Im Gegensatz zur traditionelleren
Forschung, die von einer Fragestellung ausgeht, die aus einer bestimmten Disziplin
hervorgegangen ist, arbeitet Interdisziplinarität lösungsorientiert.

Um einen Dialog zu führen, muss man zuerst wirklich wissen, wer man ist. Fürchten die ID-Forscher um ihre Identität?

Die akademische Gemeinschaft ist klar abgegrenzt und ist Teil der Identität der Forschenden. Unsere Studie hat gezeigt, dass sie sich im Allgemeinen nicht eingeschränkt fühlen. Es sind jedoch nicht alle gleich. Die "Migranten" wechseln von einer Fachrichtung zur anderen, wie zum Beispiel Physiker, die Soziologie betreiben. Die "Thematischen" interessieren sich für Fragestellungen wie Geschlechterfragen oder kulturelle Themen. Die "Natives" definieren sich von Beginn an als interdisziplinär.

Ist ID nicht manchmal nur ein Modewort, das die Forscher benutzen, um von oben auferlegte Anforderungen zu erfüllen?

Es besteht immer das Risiko, nicht über die Multidisziplinarität hinaus zu kommen
und einfach Disziplinen ohne Neuwert nebeneinander zu stellen. Es genügt nicht
zu sagen, dass man in ID forscht. Die Forscher müssen erklären, wie sie zusammen
einen theoretischen Rahmen schaffen wollen. Es gibt Kriterien, um interdisziplinäre Arbeitsziele zu definieren: Haben die Forscher gemeinsame Konzepte entwickelt? Wie haben sie ihre Zusammenarbeit organisiert?

Was verhindert, dass ID wirklich gelebt wird?

Vor allem die Strukturen. Eine Fachrichtung hat ihre eigene Sprache, ihre eigenen Konzepte und Methoden, aber auch einen präzisen institutionellen Platz im Gefüge
der Universität. Eine Fakultät ist immer auch Hierarchie. Einige Forscher bremsen
Veränderungen, denn ID stellt die grundlegende Struktur der Universität in Frage.
Die Wissenschaftler bilden Stämme, die nicht die Kontrolle über die von ihnen besetzten Territorien verlieren möchten. Der Begriff "Disziplin" kommt übrigens vom
lateinischen "disciplina", der Peitsche, um andere oder sich selbst zu bestrafen...

Kann die Existenz einer Fachrichtung in Frage gestellt werden?

Das bleibt ein Tabu, denn sie ist für die Identität des Forschers äusserst wichtig. Es
heisst dann: "Warum will man mein Spezialgebiet in Frage stellen?"

Ist es schwierig, eine Karriere in ID zu verfolgen?

Ja, eine solche Karriere ist oft nur schwer in die bestehenden Strukturen integrierbar.
Einige ID-Forscher sagen uns, dass sie auf in Disziplinen spezialisierten Nachwuchs
zurückgreifen müssen. Um seine Karriere voranzutreiben, muss ein Forscher einer
Gemeinschaft Gleichgesinnter angehören, die ihn beurteilt, ihn publizieren lässt und
ihn finanziert. Die gegenwärtige akademische Laufbahn ermutigt Forschende nicht
wirklich, Grenzen zu überschreiten.

Obwohl finanzielle Mittel vorhanden sind, müssen die universitären Strukturen die Karrieren und die Ausbildung in ID aufwerten. Risiken müssen belohnt werden.
Normalerweise müssen sich Forschende rechtfertigen, warum sie interdisziplinäre
Forschung betreiben wollen. Warum nicht umgekehrt fragen, warum sie in ihrem angestammten Fachgebiet bleiben sollten?

Sie sagen, dass ein Forscher in ID wie ein Hacker sei. Warum?

Ein Hacker bastelt und vereint heterogene Elemente und versucht, das System von innen heraus zu verändern. Die Fachrichtungen entwickeln sich stetig weiter, besonders auch durch die Forschung in ID. Diese hat die Macht, die Universität zu verändern.

Frédéric Darbellay ist Professor am Interfakultären Zentrum für Kinderrechte der Universität Genf. Er arbeitet an einer Stellungnahme zur Interdisziplinarität für die Liga Europäischer Forschungsuniversitäten (LERU) mit.