In der grössten Demokratie der Welt

Für seine Dissertation hat Hans-Christian Baumann zwölf Monate in Delhi verbracht. Er hat den indischen Wahlkampf untersucht und wurde dabei nicht nur von den Ergebnissen überrascht.

​(Aus "Horizonte" Nr. 107 Dezember 2015)​​​

"Dass forschen in Delhi körperlich so anstrengend sein würde, hätte ich nicht erwartet. Ich habe im Jahr 2014 die Wahlkampagnen der grössten indischen Parteien und die Wahlkampf-Berichterstattung der beiden bedeutendsten indischen  Tageszeitungen untersucht. Interessiert hat mich die heisse Phase der Wahlen. Noch viel heisser jedoch war die Jahreszeit, auf die diese Phase fiel. April bis Juni sind die Monate in Delhi mit den höchsten Temperaturen. Es hatte nie weniger als 40 Grad. Das Centre for Culture, Media and Governance der Jamia-Millia-Islamia-Universität liegt in einem ziemlich armen Viertel. Wegen der Hitze fiel regelmässig der Strom aus – und mit ihm auch die Klimaanlage und die Computer. Das hat sehr an meinen Nerven gezerrt. Ich kam mir manchmal vor wie der Schweizer Spiesser, der sich über Kleinigkeiten aufregt. Zugesetzt hat mir nicht nur die Hitze, sondern auch die Luftverschmutzung. Auf dem Weg zur Arbeit mit den dreirädrigen Autorikschas habe ich oft einen Mundschutz getragen. Der Weg hat im Schnitt 40 Minuten gedauert, es konnten aber auch drei Stunden sein. Hätte ich nicht in einem klimatisierten Zimmer gewohnt, ich weiss nicht, ob ich durchgehalten hätte.

Ohne Kontakte keine Chance

Geklappt hat es mit der Feldarbeit in Delhi nur, weil ich durch einen früheren Aufenthalt schon ein Netzwerk vor Ort hatte. Wer es ohne seriöse Kontakte versucht, läuft Gefahr, spätestens an der berühmt-berüchtigten indischen Bürokratie zu scheitern. Die habe auch ich zu spüren bekommen. Um mich anzumelden, musste ich zu verschiedenen Stellen in der ganzen Stadt, stand stundenlang in der Sonne. Irgendwann kam dann ein Beamter auf dem Motorrad zu Hause vorbei – mit der Aufenthaltsbewilligung.

In Demokratien spielen die Medien im Wahlkampf eine entscheidende Rolle, insbesondere die Leitmedien. Sie beeinflussen die Berichterstattung der anderen Medien. Für den Westen sind diese Agenda-Setting-Effekte gut untersucht, nicht aber in Indien, der grössten Demokratie der Welt. Ich wollte wissen, wie die beiden grössten Parteien Indiens und wie die hindisprachige Zeitung Hindustan und die englischsprachige Times of India die beiden Spitzenkandidaten Rahul Gandhi von der Kongresspartei und Narendra Modi von der oppositionellen Bharatiya Janata Party darstellen.

Dass ich mit guten Daten heimgekehrt bin, verdanke ich vor allem zwei indischen Masterstudentinnen, die ich als Codiererinnen angestellt hatte. Ich kann zwar recht gut Hindi lesen, bin aber weit davon entfernt, die Sprache fliessend zu sprechen. Um allein die Zeitungen und die Wahlkampagnen der Parteien inhaltlich zu analysieren, hätte es nicht gereicht. Die beiden Studentinnen haben in der Hitze zehn Wochen lang pro Tag bis zu acht Stunden gearbeitet, und sie liessen sich durch technische Probleme nicht beunruhigen. Der Deal war für beide Seiten gut: Sie konnten Geld verdienen und erhielten Einblick in die wissenschaftliche Arbeitsweise des Westens, ich erhielt von ihnen sprachliche und kulturelle Unterstützung.

Über die Ergebnisse bin ich erstaunt. Traditionell war Hindustan das Instrument der Kongresspartei, die Times of India die Zeitung der ehemaligen britischen Kolonialherren. Im Wahlkampf war von diesen Wurzeln nichts zu spüren. Beide Zeitungen haben sehr unabhängig und kritisch über beide Kandidaten berichtet und sich dabei gegenseitig beeinflusst. Bemerkenswert ist, dass es den Parteien nicht gelang, die Berichterstattung zu lenken. Dies wäre eigentlich in Indien nicht unüblich, denn die indischen Medien sind oft Einflussversuchen durch Politiker und private Geldgeber ausgesetzt. Das Land rangiert auf dem Pressefreiheitsindex der Organisation Reporter ohne Grenzen sehr weit unten auf Platz 136. Allerdings sind meine Resultate exploratorischer Natur und beschränken sich auf die bedeutendsten nationalen Zeitungen und die zwei grössten nationalen Parteien. Es bräuchte noch viel Forschung in Indien, um diese Effekte auch auf regionaler und lokaler Ebene besser zu verstehen."

Aufgezeichnet von Pascale Hofmeier