Ein Röntgenbild des Blaus

Um die Beständigkeit von Farbpigmenten besser zu verstehen, tauchen Forschende mit Röntgenstrahlen tief in die Materie ein. Von Philippe Morel

(Aus "Horizonte" Nr. 107 Dezember 2015)​​​

​Es ist auf der "Gossen Welle" von Hokusai ebenso zu finden wie auf den Gemälden von Picasso und van Gogh: das Berliner Blau. Es wurde zu Beginn des 18. Jahrhunderts entdeckt und trat alsbald einen schnellen Siegeszug in den Ateliers der Meister an. Die Farbe Blau war schon immer schwierig herzustellen. Deshalb mussten die Künstler für die Pigmente auf Lapislazuli zurückgreifen, ein sehr kostspieliges Mineral, oder auf Smalte, zu feinem Pulver zerriebenes Kobaltglas, das aber rasch an Intensität verlor.

Durch eine zufällige Kontamination entdeckte der Berliner Farbenhersteller Johann Jacob Diesbach das neue tiefblaue Pigment. Die Farbe stellte sich vorerst jedoch als launisch heraus: Während einige die Stabilität lobten, beklagten andere die fehlende Lichtbeständigkeit.

Reversibler Farbverlust

Genau diesem Intensitätsverlust von Berliner Blau widmet sich Claire Gervais,
Professorin an der Hochschule für Künste Bern. "Die Werkstoffe des kulturellen Erbes sind sehr erstaunlich und lehrreich", erklärt die Forscherin. "Sie sind heterogen und komplex zusammengesetzt. Durch die Mischung organischer und anorganischer Stoffe wurden manchmal sehr unerwartete Eigenschaften erzeugt. Wir
können die teilweise äusserst komplexen Herstellungsmethoden, die das Ergebnis
langjähriger Entwicklungsprozesse waren und auch Alterungsvorgänge einschlossen,
nicht mehr reproduzieren."

Chemisch gesehen handelt es sich bei Berliner Blau um einen Cyanidoferrat-Komplex mit Eisen mit der Formel Fe7(CN)18(H2O)x. Die blaue Färbung wird durch die Übertragung von Elektronen zwischen den Fe2+- und den Fe3+-Ionen erzeugt, wobei das rote Licht absorbiert wird. Durch eine lange Lichtexposition kommt es allerdings zu einer Fotoreduktion der Fe3+- zu Fe2+-Ionen. Dadurch kommt die
Elektronenübertragung zum Erliegen – das Pigment verliert seine Färbung. Teilweise lässt sich dieser Vorgang rückgängig machen, wenn das Berliner Blau dem Luftsauerstoff im Dunkeln ausgesetzt wird.

Kunst unter dem Synchrotron

Um besser zu verstehen, welche Faktoren dieses Phänomen beeinflussen, tauchen die Forschenden tief in die Materie ein und betrachten Proben mit Röntgenstrahlen. "Durch Absorptionsspektroskopie mit Röntgenstrahlen können der Oxidationszustand der Eisenatome des Pigments sowie ihre Umgebung in der Struktur bestimmt werden", erklärt die Kristallografie-Expertin Claire Gervais. "Auf diese Weise können wir die Entwicklung des Zustands der Eisenatome bei der Fotoreduktion und den Farbverlust verfolgen."

Die Forschenden verwendeten in der Nähe von Paris ein Synchrotron, einen ringförmigen Teilchenbeschleuniger. Die beschleunigten Elektronen folgen einer
kurvenförmigen Bahn und emittieren dabei eine starke, stabile und sehr konzentrierte elektromagnetische Strahlung mit Frequenzen von Infrarot bis in den
Röntgenbereich.

Berliner Blau ist empfindlich gegenüber sichtbarem Licht, aber auch gegenüber energiereicherer Strahlung. "Wir wussten, dass eine zerstörungsfreie Analyse schwierig ist", fährt Claire Gervais fort. "Unsere Vorsichtsmassnahmen reichten jedoch nicht aus, und das Pigment verfärbte sich im Teilchenstrahl." Bei der Analyse der Strahlenschäden profitierten die Forschenden allerdings davon, dass es sich dabei ebenfalls um eine Fotoreduktion handelte: Da die Röntgenstrahlen genau jenes
Phänomen verursachten, dessen Untersuchung sie ermöglichen sollten, war eine
bessere Kontrolle möglich.

Das französisch-schweizerische Team arbeitete nicht mit Proben von Kunstwerken,
sondern untersuchte systematisch den Einfluss des verwendeten Substrates (Arten von Papier und Leinwand, Verwendung einer Grundierung usw.) und der Umgebung. Besondere Beachtung galt dabei namentlich Konservierungsstrategien wie Befeuchtung, Reduktion der Sauerstoffkonzentration in einer Vitrine oder auch die absichtliche Veränderung des Säuregehalts von Papier.

Die Ergebnisse dieser Röntgen-Experimente lassen sich nicht direkt auf sichtbares
Licht übertragen, sie zeigen jedoch, dass die Degradation von Berliner Blau durch Umgebungsbedingungen und insbesondere durch das Substrat beeinflusst wird. So fördern eine tiefe Sauerstoffkonzentration, hohe Feuchtigkeit und Kaliumionen in den Fasern eines Papiers den Abbau des Berliner Blaus, während ein saures Milieu erhaltend wirkt. Dieser Schluss wird Museumskonservatoren Kopfzerbrechen bereiten: eine sauerstoffarme Umgebung verzögert den Verfall des Papiers, beschleunigt aber die Entfärbung.

Konservierung könnte profitieren

Gegenwärtig sind Labor und Museum noch zwei klar getrennte Welten. Die Arbeiten
von Claire Gervais bieten keine Wunderrezepte für die Konservierung oder Restaurierung von Kunstwerken. Sie könnten allerdings bei der Ausarbeitung von
Konservierungsstrategien helfen, die auf das Substrat oder die Ausstellungsbedingungen spezifischer Werke abgestimmt sind. Für Verena Villiger, Direktorin des Museums für Kunst und Geschichte Freiburg, ist diese Art der Forschung sehr interessant: "Selbst wenn keine direkte Zusammenarbeit mit Projekten der Grundlagenforschung besteht, verfolgen wir die Entwicklungen über Kolloquien und Publikationen – wenn auch vielleicht aus zu grosser Distanz. Für uns wird entscheidend sein, dass solche Erkenntnisse über die Werkstoffe des kulturellen Erbes durch anwendungsorientierte Forschung in konkrete Werkzeuge für die Konservierung umgemünzt werden."

Blau im Dienst der Forschung

Berliner Blau findet sich nicht nur auf der Leinwand alter Meister. Die biologische
Forschung verwendet den Farbstoff auch als Sensor zur Untersuchung von Oxidations- und Reduktionsvorgängen in lebenden Geweben. Licht verändert ausserdem die magnetischen Eigenschaften ähnlicher Materialien, wodurch sich interessante Möglichkeiten für die digitale Informationsspeicherung mit magnetischen Bits eröffnen.

Philippe Morel ist Wissenschaftsjournalist und schreibt für die Fachzeitschrift Tracés.