Missverstandenes Massaker

Mikrobe Helicobacter pylori © Keystone/Science Photo Library/Eye of Science

Die Medizin bekämpft eine Magenmikrobe, weil sie krebserregend ist. Doch sie schützte unsere Urahnen vor Asthma und Allergien. Können wir diesen Schutz auch heute noch nutzen? Von Ori Schipper

Als treuster Begleiter des Menschen gilt der Hund. Dabei ist unsere Beziehung zu einer unscheinbaren Mikrobe namens Helicobacter pylori viel älter. Unsere Vorfahren trugen den Keim schon vor 60 000 Jahren mit sich herum, als sie sich von Ostafrika aus aufmachten, den Rest der Welt zu erkunden und zu besiedeln. Das legen molekularbiologische Untersuchungen des Erbguts verschiedener Stämme der Mikrobe nahe.

Biologen bezeichnen den Keim als Pathobionten, also als Organismus, der sich sowohl als hilfreicher Gast in unserem Magen als auch als schädlicher Krankheitserreger verhalten kann. Dass die Geschichte einer so lange andauernden Beziehung mit einem so zwiespältig wirkenden Partner zahlreiche Irrungen und Wirrungen enthält, liegt zwar auf der Hand. Und doch erstaunt, wie heftig die Medizin in den letzten dreissig Jahren ihre Meinung über die treue Mikrobe gewechselt hat.

Ende der 1970er Jahre galt Robin Warren als komischer Kauz. Der australische Pathologe beobachtete in den Magenbiopsien, die ihm seine Kollegen in der Klinik von ihren Gastritis-Patienten schickten, zahlreiche gekrümmte Bazillen. Der Magen war bekannt als Organ, das keine lebenden Bakterien beherbergt. Die Wissenschaft ging davon aus, dass die Magensäure auch die widerstandsfähigsten Keime zersetzen würde. Warrens Befunde nahmen die Kliniker deshalb nur widerwillig zur Kenntnis und massen ihnen keinerlei Bedeutung zu.

Die Keime auf den Fotos, die Warren von den gefärbten agenschleimhautpräparaten anfertigte, waren zwar deutlich zu sehen, doch die Gastroenterologen blieben überzeugt, dass Magenverstimmungen mit dem Lebensstil – etwa zu viel Stress oder Alkohol – zusammenhingen. Lieber sprachen sie von «idiopathischer Gastritis», also von Magenentzündungen unklaren Ursprungs, als davon, dass die Keime ursächlich mit der Entzündung im Magen ihrer Patienten zu tun hätten.

Doch Warrens These gewinnt an Schwung, als der frischgebackene Gastroenterologe Barry Marshall für seinen Abschluss «zum Pathologen geschickt wurde, der aus Gastritis eine Infektion machen möchte», wie Warren 2005 anlässlich der Verleihung des Medizin-Nobelpreises an Marshall und ihn bemerkt. Im Jahr 1982 entnimmt Marshall 100 Patienten, die ihn für eine Magenspiegelung aufsuchen, ein kleines Stück normaler, nicht entzündeter Magenschleimhaut. Warren schaut sich die Gewebeproben unter dem Mikroskop an – und findet in mehr als der Hälfte der Proben die gekrümmten Keime. Bei einigen Patienten korreliert die Besiedlung mit Helicobacter pylori mit häufigem Rülpsen, schlechtem Mundgeruch sowie mit Geschwüren im Zwölffingerdarm, dem ersten Stück des Verdauungstraktes, das auf den namengebenden Pylorus folgt, den Pförtner am Magenende.

Drastischer Selbstversuch

Marshall zerbricht sich den Kopf, wie er diese Keime abtöten könnte. Würden sich dann auch die Magen- und Darmgeschwüre zurückbilden? Tatsächlich erzielt Marshall mit Antibiotika erstaunliche Resultate. Doch damit lässt sich die Ärzteschaft noch immer nicht umstimmen. Den skeptischen Kollegen fehlt der wahre Beweis, dass der Magenkeim tatsächlich Magengeschwüre bewirkt und nicht einfach eine Begleiterscheinung des Krankheitsgeschehens ist: Der von einer erkrankten Person isolierte Keim muss in der Lage sein, bei einer gesunden Person, die sich den Keim zuzieht, dieselbe Krankheit auszulösen.

Weil er mit Tierversuchen nicht vorwärtskommt, greift Marshall zu einem letzten, drastischen Mittel: Im Selbstversuch schluckt er eine Helicobacter-pylori-Kultur, die er vom Mageninhalt eines seiner Patienten gezüchtet hat. Nach drei Tagen beginnt sein Atem unangenehm zu riechen, nach einer Woche muss er sich häufig übergeben, und eine Biopsie seiner Magenschleimhaut bestätigt: Das Experiment ist gelungen, Marshall hat sich eine echte Gastritis zugezogen.

In den nächsten Jahren zeigt sich, dass sich Helicobacter pylori mit einem Schutzmantel umgibt, der die Magensäure lokal zu neutralisieren vermag. Und als weitere Studien die Ergebnisse von Warren und Marshall bestätigen, setzt sich allmählich die Überzeugung durch, dass der für unmöglich gehaltene Keim im Magen existiert – und gefährlich ist: Weil er nicht nur mit Magen- und Darmgeschwüren, sondern auch mit Magenkrebs in Zusammenhang steht, hat ihn die Weltgesundheitsorganisation 1994 als karzinogen bezeichnet.
Als neuer Feind wird die treue Mikrobe intensiv – und erfolgreich – bekämpft. Häufig verschriebene Antibiotikatherapien, aber auch weitere Faktoren wie sauberes Trinkwasser und erhöhte Hygiene führen dazu, dass immer weniger Menschen mit dem Magenkeim zusammenleben. Während dies vor 50 Jahren noch für eine grosse Mehrheit der Menschen der Fall war (und in weiten Teilen Afrikas oder Südamerikas immer noch ist), lässt sich der Keim heute nur noch in knapp einem von zehn Kindern in den USA oder Europa nachweisen.

Weil mit dem Verschwinden des Magenkeims auch die Magenkrebsrate gesunken ist, ist das zwar ein Grund zur Freude. Zusehends jedoch mischt sich in diese Freude auch Bedauern. Schon seit einigen Jahren mehren sich die Hinweise, dass sich das Fehlen der Mikrobe auch negativ auswirkt. «Helicobacter pylori hat zwei Gesichter», sagt Anne Müller vom Institut für molekulare Krebsforschung der Universität Zürich. Sie und ihr Team haben Mäuse zu zwei verschiedenen Zeitpunkten mit Helicobacter pylori infiziert: gleich nach der Geburt oder sechs Wochen später. Das Immunsystem der früh infizierten Mäusen ist zum Zeitpunkt der Ansteckung noch nicht ausgereift. Die Immunantwort ist deshalb «tolerogen»: Das System lernt, dass die Mikrobe dazugehört und nicht bekämpft werden muss. Dadurch werden die früh infizierten Mäuse zwar hundertfach stärker mit dem Magenkeim besiedelt als die spät infizierten, doch sie leiden erstaunlicherweise an keinerlei Magenbeschwerden.

Überredungskünste

Bei den sechs Woche alten Mäusen sieht das Bild komplett anders aus. Das erwachsene, ausgereifte Immunsystem antwortet «immunogen»: Es betrachtet Helicobacter pylori als Eindringling, den es zu bekämpfen gilt. Allerdings kann das Immunsystem diesen Kampf nicht gewinnen. Seine Antwort löscht den Keim nicht aus, eine gewisse Anzahl Helicobacter-pylori-Zellen setzt sich im Magen fest – und löst eine chronische Entzündung aus.

«Es ist nicht die Mikrobe selbst, sondern diese chronische Abwehrreaktion unseres Körpers, die das Massaker im Magen verübt», sagt Müller. Ihre Gruppe hat herausgefunden, dass die Mikrobe im Magen in der Lage ist, die Antwort unseres Immunsystems zu beeinflussen und also «immunmodulatorisch» wirkt: Die Mikrobe überredet quasi unser Immunsystem zu einer jugendlichen, tolerogenen Antwort. Dadurch bringt das erwachsene System keine überzeugende Antwort zustande, die den Keim zum Verschwinden brächte. Die Bekämpfung hört nicht mehr auf und richtet sich gegen die eigenen Magenschleimhautzellen, die schliesslich zum Geschwür oder sogar zum Krebs entarten.

Weil Helicobacter pylori sich in Tausenden von Jahren an das gemeinsame Leben mit dem Menschen angepasst und dabei gelernt hat, unser Immunsystem dazu zu bringen, nicht bei allen Keimen im Körper gleich Alarm zu schlagen, geht die Bedeutung der Mikrobe über Magenprobleme hinaus. Denn zeitgleich mit dem Rückgang von Helicobacter pylori in den letzten dreissig Jahren stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einen steilen Anstieg von allergischen Erkrankungen fest. Dass diese Entwicklungen nicht nur zeitlich zusammentreffen, sondern auch ursächlich miteinander verknüpft sind, zeigen weitere Versuche der Gruppe um Müller. Der früh erworbene Magenkeim schützt die Mäuse lebenslänglich etwa vor Asthma, Heuschnupfen, Neurodermitis und Zöliakie. «Dieser vollständige Schutz ist der drastischste Phänotyp, den ich je das Vergnügen hatte zu untersuchen», sagt Müller.

Sie kann der «disappearing microbiota hypothesis» (der Hypothese der schwindenden Bakterienvielfalt) viel abgewinnen. Diese setzt den Verlust der von unseren Urahnen vererbten Mikroben in Beziehung zu zahlreichen Zivilisationskrankheiten, wie etwa Fettleibigkeit oder Asthma, die seit dreissig Jahren vor allem den globalen Norden heimsuchen. Würden wir Menschen öfter auf den Einsatz von Antibiotika – vor allem bei Kindern – verzichten und so das «Mikrobiom unserer Vorfahren» besser bewahren, könnten wir auf die Hilfe vieler verschiedener Keime bauen, die unser Immunsystem in Richtung Toleranz treiben, meint Müller. «Wir sollten nicht ohne Grund nützliche Keime loswerden.»

Doch Helicobacter pylori ist ein komplexer Fall. Eigentlich haben die Gastroenterologen gute Gründe für ihre Bemühungen, den Keim auszurotten. «Der Keim hat zu Recht einen schlechten Ruf. Und Krebs ist schlimmer als Asthma. Es steht deshalb ausser Frage, zu einem therapeutischen Zweck lebende Mikroben zu verabreichen», sagt Müller. Mit ihrem Team verfolgt sie einen differenzierteren Ansatz.

Für Kinder mit Asthma

Die Forschenden haben bei Helicobacter pylori zwei sogenannte Persistenzfaktoren identifiziert: Moleküle, die der Keim ausscheidet und die das Immunsystem tolerogen oder gütig stimmen. Sie haben getestet, ob diese beiden isolierten Faktoren für den Schutz vor Asthma ausreichen. «Bei den Mäusen funktioniert das erstaunlich gut», sagt Müller. Nun entwickelt sie in Zusammenarbeit mit der pharmazeutischen Industrie eine neue Impfstrategie, mit der sie die Nachteile des Magenkeims vermeiden will, ohne auf die Vorteile verzichten zu müssen. Die Biologin denkt an eine Behandlung für Kinder mit einem hohen Asthmarisiko. Mit den Persistenzfaktoren könnte man die Magenkrebsgefahr umschiffen und trotzdem die wertvollen immunmodulatorischen Eigenschaften nutzen, die Helicobacter pylori im Laufe der langen gemeinsamen Vergangenheit mit uns Menschen erworben hat.

Ori Schipper ist Wissenschaftsredaktor des SNF.

(Aus "Horizonte" Nr. 102, September 2014)