Beim Bundesrat wirkt der Kantönligeist nicht
Die Kantone sind stets Thema, wenn ein neues Mitglied der Landesregierung gewählt wird. Auf den Ausgang von Volksabstimmungen hat es aber kaum einen Einfluss, ob der eigene Kanton im Bundesrat vertreten ist oder nicht.
Sowohl für Ueli Maurer als auch für Simonetta Sommaruga wird demnächst eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gewählt. Nach deren Rücktritten gab es unzählige Spekulationen darum, wer dies werden könnte. Neben Partei und Geschlecht stand dabei auch der Heimatkanton der Kandidierenden im Mittelpunkt des Interesses. Denn, so scheint es zumindest, jeder Kanton und jede Sprachregion möchte gerne eigene Leute in der Landesregierung platzieren.
«Die Schweiz ist sehr föderal und das Ziel war schon immer, auch Minderheiten in die Regierung einzubinden», sagt der vom Schweizerischen Nationalfonds geförderte Politikwissenschaftler Sean Müller von der Universität Lausanne. Doch bei nur sieben zu vergebenden Plätzen kommen nie alle zum Zuge und es ist immer jemand unzufrieden. So drängte das Tessin vor der Wahl von Ignazio Cassis darauf, endlich wieder einmal in der obersten Exekutive dabei zu sein. «Als Forscher habe ich mich allerdings gefragt, ob eine Vertretung im Bundesrat für die Abstimmenden der einzelnen Kantone und Sprachregionen überhaupt eine so grosse Rolle spielt.»
Dieser Frage ging Müller deshalb in einer Analyse nach. Hierfür brachte er die Daten sämtlicher 670 in der Schweiz durchgeführten Referenden zwischen 1848 und Februar 2022 zusammen und schlüsselte sie nach Kantonen auf. Seine Resultate belegen, dass es nur wenig Auswirkung auf das Abstimmungsverhalten hat, wenn ein Bundesrat oder eine Bundesrätin aus dem eigenen Kanton kommt.
Kanton folgt nicht „seiner“ Bundesrätin
Zwar fand Müller einige Effekte, doch diese waren eher gering: So erhöhte ein eigenes Mitglied in der Landesregierung die Abstimmungsbeteiligung in den französischsprachigen Kantonen nur um ein paar Prozentpunkte. In der Deutschschweiz änderte sich dagegen gar nichts. Und im Tessin kann ein Sitz im Bundesrat sogar mit einer tieferen Beteiligung einhergehen – so geschehen in jüngerer Zeit während der Amtszeit von Flavio Cotti von 1987 bis 1999, als durchschnittlich 39 Prozent des Tessiner Stimmkörpers an eidgenössischen Abstimmungen teilnahm gegenüber 42 Prozent in der Zeit bis zum Amtsantritt von Ignazio Cassis im November 2017. Ein überraschendes Ergebnis, dem Müller nun mit weiteren Untersuchungen im Detail nachgehen möchte.
«Die oft geäusserte Hypothese, dass eine kantonale Vertretung im Bundesrat das Interesse für die nationale Politik in der Bevölkerung verstärkt, wird durch diese nur minimen Effekte klar widerlegt», so Müller. Er hält seine Resultate für sehr robust, da er nicht nur eine Stichprobe, sondern einen vollständigen historischen Datensatz auswerten konnte.
Müller ermittelte ebenfalls, ob die Bürgerinnen und Bürger bei der Abstimmung eher den Empfehlungen des Bundesrates folgen, wenn ihr Kanton darin vertreten ist – beispielsweise, weil die Identifikation mit der Regierung grösser ist, wenn dort jemand die gleiche Sprache oder den eigenen Dialekt spricht. Doch auch hier zeigten sich keine signifikanten Effekte. Simonetta Sommarugas CO2-Gesetz wurde im Juni 2021 zum Beispiel in ihrem Kanton Bern genauso knapp abgelehnt wie im Rest der Schweiz, nämlich mit 48.4 bzw. 48.5 Prozent Ja-Stimmen. Und Ueli Maurers Unternehmenssteuerreform III erging es in seinem Heimatkanton im Februar 2017 gar noch schlechter (Zürich: 37.5% Ja; Schweiz: 40.9% Ja).
Kanton ist einfache Kategorie für Medien
«Andere Faktoren wie die Parteizugehörigkeit, oder ob jemand auf dem Land oder in der Stadt lebt, haben einen viel grösseren Einfluss auf das Abstimmungsverhalten als der Heimatkanton der Bundesräte», so Müller. Er sieht innerhalb der Kantone eine viel grössere Heterogenität als entlang des Röstigrabens und der Kantonsgrenzen.
Warum wird dann die Kantonsfrage bei der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten trotzdem so hochgespielt? «Neben Partei und Geschlecht bietet sich der Kanton für die Medien als weitere einfache Kategorie an», so Müller. Zudem finde die Schweizer Politik eben hauptsächlich auf kantonaler Ebene statt – so gebe es beispielsweise keine eigentlichen nationalen Wahlen. Alle Politikerinnen und Politiker, die zu Wort kommen, vertreten auch einen Kanton und hätten deshalb ein Interesse daran, diesen bei Bundesratskandidaturen ins Gespräch zu bringen. Auch wenn es dem Volk letztendlich egal ist, woher die Bundesrätinnen stammen.