Dr. Internets unverständliche Diagnosen

Viele Menschen können Online-Informationen über Gesundheit schlecht einschätzen. Neue Untersuchungen zeigen, welche Beurteilungskriterien sie benutzen und wie ihnen geholfen werden kann. Von Florian Fisch

(Aus "Horizonte" Nr. 111 Dezember 2016)​​​

Bei Gebresten ist der Hausarzt nicht mehr die erste Adresse. "Immer mehr Menschen treffen Gesundheitsentscheidungen allein, ausserhalb einer medizinischen Konsultation", sagt Nicola Diviani von der Universität Luzern, der sich die Online-Informations-Beschaffung zum Thema gemacht hat. Stattdessen suchen sich Patienten ihre Diagnosen und Zweitmeinungen im Internet.

Dies kann die Autonomie der Menschen vergrössern und Gesundheitskosten sparen, hat aber auch seine Schattenseiten. Die Gesundheitskompetenz von 54 Prozent der Schweizer Bevölkerung wurde 2015 in einer Erhebung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) als "problematisch" bis "unzureichend" eingestuft. Die Schweiz befindet sich damit im europäischen Vergleich im hinteren Mittelfeld, irgendwo zwischen Spitzenreiter Niederlanden (29 Prozent problematisch/unzureichend) und Schlusslicht Bulgarien (62 Prozent). Das schlechte Abschneiden ist laut BAG hauptsächlich auf einen Punkt zurückzuführen: die verunsicherte bis kritische Haltung gegenüber Impfungen in der Schweiz.

Genau diese niedrige Gesundheitskompetenz ist die Krux mit der Online-Information, wie Diviani in einer systematischen Literaturstudie bestätigen konnte: "Das Problem ist nicht, die Information zu finden, sondern sie auszuwerten." So beurteilen Menschen mit einer niedrigen Gesundheitskompetenz Webseiten von bescheidener Qualität besser als solche von hoher Qualität. Die beunruhigende Situation entsteht, weil sie beispielsweise den öffentlichen Verwaltungen nicht trauen, die Rangierung innerhalb der Suchresultate als Indikator benutzen oder die Qualität der angezeigten Bilder statt des Inhalts beurteilen.

In einer Mischung aus Interview und Fragebogen fand Diviani weiter heraus, dass die meisten von 44 Probanden die Qualität der Webseiten gar nicht hinterfragten. Das ist problematisch, denn, so Diviani: "Es ist nicht möglich, den Online-Informations-Fluss zu kontrollieren."

Trotz der schlechten Vorzeichen hat sich die Genfer Stiftung Health on the Net (HON) genau dies zum Ziel gemacht. HON vergibt Zertifikate für Webseiten, die ihren Kriterien entsprechen. Die Webseite krebsliga.ch ist zum Beispiel seit 18 Jahren zertifiziert. Andere Seiten wie sprechzimmer.ch befinden sich nicht darunter. Die Stiftung stellt Suchfunktionen für die Orientierung im Informationsdschungel zur Verfügung.

Diskussionsforen sind besser

Nicht alle Experten sind jedoch gleichermassen besorgt um die Gesundheit der Bevölkerung. "Es ist ein häufiger Fehler, das Internet als ein einheitliches Ganzes zu betrachten", sagt Jennifer Cole von der University of London. "Die Fähigkeit einer Person, die Website oder die Organisation dahinter zu beurteilen, ist wichtiger als die Fähigkeit, die Information selbst zu beurteilen." Bisher zeige keine Studie, dass Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz aufgrund von Online-Informationen töricht gehandelt hätten oder zu Schaden gekommen wären.

Cole und ihr Team liessen die Qualität der Information von drei verschiedenen Diskussionsforen zu HIV, Diabetes und Windpocken auswerten und kamen dabei zum Schluss: Die meiste angebotene Information ist von "ausreichend guter Qualität". Diskussionsplattformen stechen dabei heraus, so Cole: "Online-Foren sind besser als statische Information, weil die Nutzer sehen, wie andere mit der dargebotenen Information übereinstimmen oder nicht und allenfalls zur Vorsicht mahnen." Ein prominentes Beispiel dafür sind die Mailinglisten der Association of Cancer online Resources (acor.org). Dort geben sich Krebskranke und Angehörige seit über 20 Jahren gegenseitig Ratschläge und verlangen laut dem Gründer Gilles Frydman voneinander auch Mal einen Beleg für Behauptungen.

Diviani und Cole stimmen überein, dass Bildung und die Qualität des Informationsangebots wichtig sind. Doch Cole wünscht mehr Diskussionen anstelle von einseitig verkündeter statischer Information, selbst bei kontroversen Themen wie Impfungen: "Wenn Menschen sich mit anderen über ihre Gefühle und Befürchtungen austauschen können, wird die Mehrheitsmeinung wahrscheinlich die vernünftige sein."

Florian Fisch ist Wissenschaftsredaktor des SNF.

N. Diviani et al.: Exploring the role of health literacy in the evaluation of online health information: Insights from a mixed-methods study. Patient Education and Counseling (2016)J. Cole et al.: Health Advice from Internet Discussion Forums: How Bad Is Dangerous? Journal of Medical Internet Research (2016)