Im Genfersee wurde eine neue Art von Welle entdeckt

Uferpromenade am Genfersee
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Jeden Sommer wandert eine ganz besondere Welle rund um den Genfersees. Das Phänomen wurde erst jetzt entdeckt, obwohl die Strömungen zu den stärksten im See zählen und die biogeochemischen Kreisläufe im Küstenbereich beeinflussen.

Wer im Genfersee schwimmt, ahnt nicht, was sich unter den Füssen alles abspielt. Wellen bilden sich nämlich nicht nur an der Wasseroberfläche. Auch in der Tiefe verlaufen wogenförmige Strömungen – interne Wellen genannt.

Viele davon sind zwar schon seit Jahrzehnten bekannt, doch der grösste See der Schweiz und Westeuropas ist immer für eine Überraschung gut: Im Zuge eines vom SNF geförderten Projekts (*) entdeckte David Andrew Barry mit seinem Team eine bisher übersehene Wellenart, die sich unter Wasser am Ufer entlang schlängelt. Diese Bewegung hat Einfluss auf die Verteilung von Stoffen, die beispielsweise die Rhone mitbringt.

Im Sommer herrschen richtige Bedingungen

Diese speziellen internen Strömungen entstehen nur im Sommer, wenn sich im See verschiedene Temperaturschichten bilden, die relativ scharf voneinander abgegrenzt sind. So herrschen im oberen Bereich etwa angenehme zwanzig Grad Celsius, weiter unten ist es wesentlich kälter – mit bis zu sechs Grad Celsius in dreihundert Metern Tiefe. Zwischen der warmen oberen und der kalten unteren gibt es noch eine sogenannte Sprungschicht.

Wenn nun der Wind von Südwest oder eine Bise von Nordost über das Gewässer bläst, drückt dies die oberen Schichten in eine Richtung weg. Lässt der Wind dann wieder nach, schwappt dieses Wasser wieder in seine ursprüngliche Lage zurück. «Das Ganze fängt an, sich aufzuschaukeln», erklärt der Erstautor der Studie, Rafael Reiss. Er forscht mittlerweile mit Unterstützung des SNF im britischen Cambridge.

Das Besondere an der jetzt neu entdeckten Wellenart ist, dass sich bei ihr die drei Temperaturschichten gegeneinander verschieben. Und nicht wie bei bisher nachgewiesenen internen Wellen nur zwei.

Die dabei entstehende sogenannte V2-Kelvin-Welle hat noch eine weitere Eigenheit: Durch die von der Erdrotation verursachte Corioliskraft bekommt sie einen zusätzlichen Drall und beginnt sich am Ufer entlang rund um den See zu bewegen. Durch den gleichen Mechanismus entstehen auch die von Wetterkarten bekannten Wirbel in Tiefdruckgebieten, deutlich sichtbar zum Beispiel bei tropischen Wirbelstürmen.

In fünf Tagen vollständig um den See

Die Forschenden der EPFL fanden die Welle durch Temperatur- und Strömungsmessungen an verschiedenen Orten und Tiefen im Genfersee. Bei der Auswertung der Daten fiel ihnen ein stark oszillierendes Muster auf, das sich nicht durch bereits bekannte Bewegungen erklären liess.

Modellierungen zeigten schliesslich, dass die Beobachtungen zu einer V2-Kelvin-Welle passten. In der Theorie ist das Auftreten dieser Art Wasserbewegung durchaus nichts Ungewöhnliches. Doch bisher gab es so gut wie keine praktischen Untersuchungen und Nachweise in realen Seen dazu.

Die Analyse ergab: Die Welle wandert in fünf Tagen einmal rund um das Ufer. Sie dreht sich dabei immerzu gegen den Uhrzeigersinn um einen festen Punkt in der Mitte des Sees, denn V2-Kelvin-Wellen sind eine Sonderform von stehenden Wellen.

Diese haben Knotenpunkte, um die herum das Wasser schwingt – ähnlich wie eine Gitarrensaite, die an beiden Enden fixiert ist. Im Gegensatz dazu pflanzen sich etwa Windwellen an der Oberfläche einfach in eine Richtung fort.

Am stärksten ist der gemessene Effekt in dreissig Meter Tiefe, etwa einen Kilometer vom Ufer entfernt. Beim Durchlauf der Welle bewegen sich die Temperaturschichten unter Wasser etwa 25 Meter auf und ab. Die Geschwindigkeit beträgt bis zu dreissig Zentimeter pro Sekunde.

«Die Strömung, die dadurch entsteht, ist mit Abstand die stärkste, die wir diesen Sommer gemessen haben. Damit gehört sie zu den stärksten im See überhaupt», sagt Reiss. Da die Bewegung so mächtig ist, beeinflusst sie den Transport von Sedimentpartikeln sowie Schad- und Nährstoffen im Küstenbereich.

Diese tragen neben der Rhone auch die vielen kleinen Flüsse und Abwasserleitungen insbesondere am Nordufer in den See. Die Forschenden können nun die Verteilung des Materials modellieren. Eine Simulation zeigte beispielsweise, dass im Wasser schwebende Partikel durch die V2-Kelvin-Welle den ganzen Juli immer am Ufer entlang getrieben werden. Dabei verteilen sie sich über mehr als die halbe Länge des tiefen Beckens, den Grand Lac.

Wohl auch in anderen Seen

Eigentlich ist es verwunderlich, dass die V2-Kelvin-Wellen noch niemandem aufgefallen sind, obwohl der Genfersee zu den am besten erforschten Seen der Welt gehört. Ein Grund dafür ist laut Reiss wohl, dass die Messungen bisher nicht an den richtigen Stellen stattfanden.

Sind die Sonden nämlich zu nahe am Ufer oder in der falschen Tiefe platziert, so können sie zwar eventuell die starken Strömungen erfassen. Dabei sind aber jeweils nur ein oder zwei der charakteristischen drei Schichten sichtbar. Daher hat wohl bisher niemand die Verbindung zu dieser neuen Wellenform hergestellt.

Das Forschungsteam ist sich sicher, dass V2-Kelvin-Wellen auch durch andere Seen treiben, die ähnlich gross und tief wie das Genfer Binnengewässer sind. Ein heisser Kandidat dafür wäre beispielsweise der Bodensee. «Es handelt sich unseren Ergebnissen nach nicht um etwas Exotisches, dass nur im Genfersee zu erwarten ist. Man muss nur genau hinschauen und wissen wonach man sucht», so Reiss.